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Unstetigkeiten bei den linearen Integralgleichungen mit Anwendung auf ein Problem von Riemann. (German) JFM 36.0438.04

Bei der großen Wichtigkeit, die Hilberts dritte Mitteilung (JFM 36.0438.02) für die Funktionentheorie hat, soll darüber etwas ausführlicher berichtet werden.
Riemann hat sich die Aufgabe gestellt, Funktionen einer komplexen Veränderlichen innerhalb eines Gebietes zu bestimmen, das von einer gegebenen Randkurve begrenzt ist, wenn zwischen dem reellen und dem imaginären Teil der Funktion auf der Randkurve Relationen gelten sollen, deren Koeffizienten gegebene, auf der Randkurve stetige Funktionen sind. Die Theorie der linearen Integralgleichungen bietet nun, wie Hilbert schon in seinem Heidelberger Vortrage (JFM 36.0438.03) an einem Beispiele gezeigt hatte, die Mittel, diese Riemannsche Frage für den Fall zu lösen, daßdie auf der Randkurve gegebenen Relationen linear sind.
Die erste und einfachste Aufgabe dieser Art besteht darin, eine außerhalb der geschlossenen analytischen Kurve \(C\) der Länge \(l\) reguläre analytische Funktion \(f_a(z)\) und eine innerhalb \(C\) ebenfalls reguläre Funktion \(f_j(z)\) zu finden, so daßdie Randwerte beider Funktionen auf \(C\) in einem gegebenen komplexen Verhältnis stehen, daßalso auf \(C\): \[ (1) \qquad f_a(s) =c(s) f_j(s) \] ist, wo in dem komplexen Ausdrucke \[ (2) \qquad c(s) =a(s) +ib(s) \] der reelle und der imaginäre Teil zweimal stetige differenzierbare Funktionen der Bogenlänge \(s\) von \(C\) ohne gemeinsame Nullstelle sind. Die Zurückführung dieser Aufgabe auf die Lösung einer linearen Integralgleichung zweiter Art gelingt durch folgende Überlegungen.
I. Es sei \(G_j(x, y; x', y')\) eine Greensche Funktion, die in bezug auf \(x, y\) innerhalb \(C\) überall der Gleichung \(\varDelta G_j=0\) genügt und an der innerhalb \(C\) gelegenen Stelle \(x', y'\) logarithmisch unendlich wird, und von der Art, daßdie in der Richtung der inneren Normale genommenen Ableitungen von \(G_j (x, y ; x', y')\) auf \(C\) den von \(s\) unabhängigen Wert \(2\pi/ l\) haben. Läßt man die Punkte \(x, y\) und \(x', y'\) auf die Randkurve \(C\) wandern, so möge der betreffende Wert von \(G_j\) mit \(G_j(s, s')\) bezeichnet werden.
Wenn jetzt \(W(s)\) irgend einen komplexen Ausdruck auf \(C\) bedeutet, so möge zur Abkürzung \[ (3) \qquad \frac i{2\pi} \int_0^l \frac{\partial G_j (s, s')}{ \partial s'}\;W(s') ds' =M_j W \] gesetzt werden. Sind \(f_i\) die Randwerte einer analytischen Funktion, so wird durch das Integral \(M_j f_j\) wieder die Funktion \(f_j(s)\) dargestellt, nur um eine komplexe Konstante derart vermehrt, daßdas über die Kurve \(C\) erstreckte Integral verschwindet. Diese Reproduktion ist eine hinreichende \[ (4) \qquad f_j(s) =u_j (s) +i v_j (s) \] den Randwerten einer innerhalb \(C\) regulären Funktion der komplexen Veränderlichen \(z=x +iy\) gleichist. Durch den Ausdruck \(W+ M_j W\) werden stets die Randwerte einer innerhalb \(C\) regulären Funktionen der komplexen Veränderlichen \(z\) dargestellt.
II. Setzt man statt der Worte “innerhalb \(C\)” überall die Worte “außerhalb \(C\)”, so gelangt man zu einer Greenschen Funktion \(G_a (x, y; x', y')\) und zu der Operation \[ (5) \qquad M_a W = \frac i{2 \pi} \int_0^l \frac{\partial G_a (s, s')}{ \partial s'}\;W(s') ds', \] und es wird, falls \(f_a\) die Randwerte einer außerhalb \(C\) regulären analytischen Funktion bedeutet, durch den Ausdruck \(-M_a f_a\) wiederum die Funktion \(f_a (s)\) dargestellt, vermehrt um eine solche komplexe Konstante, daßdas über die Kurve \(C\) erstrecke Integral verschwindet. Diese Reproduktion ist eine hinreichende Bedingung dafür, daßder komplexe Ausdruck \[ (6) \qquad f_a(s) =u_a (s) +i v_a (s) \] den Randwerten einer außerhalb \(C\) regulären Funktion der komplexen Veränderlichen \(z\) gleich ist. Durch den Ausdruck \(W- M_a W\) werden stets die Randwerte einer außerhalb \(C\) regulären Funktion der komplexen Veränderlichen \(z\) dargestellt.
III. Die Verbindung zwischen den Operationen \(M_j\) und \(M_a\) wird durch die Identität vermittelt: \[ (7) \qquad M_a W = M_j W +\int_0^l D(s', s) W(s') ds', \] in der \(D(s', s)\) eine bestimmte, zu \(C\) gehörige reguläre analytische Funktion von \(s'\) und \(s\) bedeutet.
IV. Unter Fortlassung des Argumentes \(s\) setze man: \[ (8) \qquad F_a =f_a +M_a f_a, \quad\quad (9) \qquad F_j =-f_j+M_j f_j +\gamma, \] wo \(\gamma\) eine noch zu bestimmende Konstante bedeutet, und \[ (10) \qquad c(s') =c(s) +c(s', s) \sin \tfrac{\pi}l (s- s'). \] Dann ergibt sich aus (1) durch die Operation \(M_a\): \[ (11) \qquad M_a f_a =c(s) M_j f_j +\int_0^l E(s', s) f_j (s') ds', \] wo \(E(s', s)\) eine stetige differenzierbare Funktion von \(s'\) und \(s\) wird, und jetzt folgt aus (1), (8), (9) und (11): \[ (12) \qquad F_a -cF_j =2c (s) \left\{f_j +\int_0^l \frac{E(s', s)}{ 2c(s)}\;f_j (s') ds' -\tfrac 12\, \gamma \right\}, \] wo nach den Voraussetzungen \[ (13) \qquad K(s', s) =- \frac{E(s', s)}{2c(s)} \] eine stetige differenzierbare Funktion von \(s'\) und \(s\) ist. Auf diese Weise ist man zu der linearen Integralgleichung zweiter Art mit dem komplexen Kern \(K(s', s)\) gelangt: \[ (14) \qquad \tfrac 12 \,\gamma =f_j -\int_0^l K(s', s) f_j (s') ds'. \] Man weiß, daßdie Integralgleichung (14) gewißeine von Null verschiedene Lösung \[ f_j (s) =u_j (s) +i v_j (s) \] besitzt, und zwar entweder, indem man die Konstante \(\gamma\) als von Null verschieden annimmt, oder, falls der Wert Eins ein Eigenwert für den Kern \(K(s', s)\) ist, indem man \(\gamma=0\) setzt. Hat man aber \(f_j(s)\), so ist \(f_a(s) =c(s) f_j(s)\). Bildetman alsdann aus (8) und (9) die Ausdrücke \(F_a\) und \(F_j\), so erhält man entweder identisch Null oder nicht. In dem ersten Fall ist mit Hülfe der Greenschen Funktionen \(G_a\) und \(G_j\) die Aufgabe sofort gelöst. In dem zweiten betrachte man die zu \(f_a\) und \(f_j\) konjugiert komplexen Ausdrücke \(\overline f_a\) und \(\overline f_j\). Sie führen zu der Lösung der Aufgabe, ein Funktionenpaar \(g_a (z)\) und \(g_j(z)\) zu finden, das auf \(C\) der Relation. \[ (1') \qquad g_a (s) = \overline c (s) g_j (s) \] genügt, wo \(\overline c(s)\) zu \(c(s)\) konjugiert ist. Der erste Fall tritt ein, wenn die Änderung von \(\log c(s)\) beim Umlauf um \(C\) in positivem Sinn negativ ist, der zweite, wenn diese Änderung positiv ausfällt. Wenn sie jedoch verschwindet, so lassen sich gleichzeitig die Forderungen (1) und (\(1'\)) erfüllen.
Aus dem eben bewiesenen Satze folgt auch, daßes stets bei beliebig gegebenem \(c(s)\) ein Paar von Funktionen \(f_a\) und \(f_j\) gibt, von denen die erste außerhalb \(C\), die zweite innerhalb \(C\) den Charakter einer rationalen Funktion hat, während auf \(C\) notwendig die Relation (1) erfüllt ist.
Die zweite Aufgabe, die Hilbert löst, besteht darin, zwei außerhalb der geschlossenen analytischen Kurve \(C\) reguläre, bzw. sich wie rationale Funktionen verhaltende Funktionen \(f_a (z)\) und \(f_a'(z) \) und zwei innerhalb \(C\) reguläre, bzw. sich wie rationale Funktionen verhaltende Funktionen \(f_j(z)\) und \(f_j'(z)\) zu finden, so daßdie Randwerte dieser beiden Funktionenpaare auf der Kurve \(C\) eine gegebene lineare Transformation mit gegebenen komplexen Koeffizienten erfahren, daßalso \[ (15) \qquad \begin{cases} f_a (s) = c_1 (s) f_j(s) +c_2 (s) f_j'(s), \\ f_a' (s) = c_1' (s)f_j(s) +c_2'(s) f_j'(s) \end{cases} \] wird, wo die \(c_1 (s), c_1'(s), c_2 (s) , c_2'(s)\) gegebene komplexe, zweimal stetige differenzierbare Ausdrücke in \(s\) sind, deren Determinante für alle \(s\) von Null verschieden bleibt. Zur Lösung der Aufgabe setze man unter Weglassung des Argumentes: \[ \begin{aligned} & (16) \qquad F_a =f_a +M_a f_a, \quad\quad (17) \qquad F_a'=f_a' +M_a f_a',\\& (18) \qquad F_j =-f_j +M_j f_j +\gamma_j, \quad\quad (19) \quad F_j' = -f_j' +M_j f_j',\end{aligned} \] wo \(\gamma\) eine noch zu bestimmende Konstante bedeutet, und ferner: \[ (20) \qquad c_k^{(h)} (s') =c_k^{(h)} (s) +c_k^{(h)} (s', s) \sin \tfrac \pi l (s-s')(h=0, 1; k=1, 2), \] und wende wieder auf die Gleichungen (15) die Operation \(M\) an. In ähnlicher Weise wie bei der ersten Aufgabe erhält man hierdurch die Gleichungen: \[ (21) \quad \begin{cases} \frac 12 \gamma =f_j -\int_0^l \left\{ K_1 (s', s) f_j (s') +K_2 (s', s) f_j' (s') \right\} ds', \\ 0=f_j' - \int_0^l \left\{ K_1' (s', s) f_j (s') +K_2' (s', s) f_j'(s') \right\} ds', \end{cases} \] die sich in eine einzige lineare Integralgleichung zweiter Art: \[ (22) \quad \gamma(s) =\varphi(s) -\int_0^{2l} K(s', s) \varphi(s') ds' \] zusammenfassen lassen, indem man die Funktionen \(\gamma(s), \varphi(s), K(s', s)\) geeignet definiert. Die weiteren Schlüsse gestalten sich ganz ähnlich, wie bei der ersten Aufgabe, und man gelangt so zu dem Satze, daßes entweder zwei Funktionenpaare \(f_j(z), f_j'(z)\) und \(f_a(z), f_a'(z)\) gibt, die der Aufgabe (im Falle regulären Verhaltens) genügen, oder daßsich die Aufgabe lösen läßt, wenn die \(c_k^{(h)} (s) \) durch die konjugierten Ausdrücke ersetzt werden. Es gibt entweder gar kein System oder nur eine endliche Anzahl linear unabhängiger Systeme von analytischen Funktionen \(f_j(z), f_j'(z), f_a(z), f_a'(z)\), die außerhalb, bzw. innerhalb \(C\) regulär sind und auf \(C\) den Relationen (15) genügende Randwerte besitzen. Läßt man dagegen statt des regulären Verhaltens ein Verhalten nach Art rationaler Funktionen zu, so besitzen die Relationen (15) gewißmindestens ein Lösungssystem.
Von diesem Satze macht Hilbert eine bemerkenswerte Anwendung auf den Beweis für die Existenz linearer Differentialgleichungen mit vorgeschriebener Monodromiegruppe, also auf die Lösung des besonderen, der Theorie der linearen Differentialgleichungen entsprungenen Riemannschen Problems. Den Gedanken zu dieser Lösung hatte er bereits in seiner Vorlesung über Integralgleichungen im Wintersemester 1901/02 entwickelt, und einer seiner Zuhörer, O. Kellog, hatte ihn in der oben angegebenen Note auszuführen versucht; auf anderem Wege ist L. Schlesinger vorgegangen, der die Kontinuitätsmethode herangezogen hat.
Handelt es sich also etwa um eine lineare homogene Differentialgleichung zweiter Ordnung, so verbinde man die gegebenen singulären Punkte \(z', z'', \dots, z^{(m)}\) zyklisch mittels einer geschlossenen analytischen Kurve \(C\). Dann hat man ein Paar von Funktionen \(f(z), f'(z)\) zu konstruieren, die sich überall in der Ebene wie rationale Funktionen verhalten und nur auf den zwischen \(z'\) und \(z'', z''\) und \(z''', \dots, z^{(m-1)}\) und \(z{(m)}\) verlaufenden Kurvenstücken ein singuläres Verhalten zeigen, insofern ihre Werte auf der äußeren Seite dieser Kurvenstücke aus den Werten auf der inneren Seite durch lineare homogene Verbindungen mit gegebenen komplexen Koeffizienten abzuleiten sind. Die Lösung dieser Aufgabe läßt sich darauf zurückführen, Funktionen \(g_j(z), g_j'(z), g_a(z), g_a'(z)\) außerhalb, bzw. innerhalb der Kurve \(C\) vom Charakter rationaler Funktionen derart zu bestimmen, daßihre Randwerte die Relationen (15) erfüllen, wodurch man zu Hilberts zweiter Aufgabe geführt wird.
“Die Methode der Integralgleichungen,” so schließt Hilbert, “ist auch auf weit allgemeinere Probleme anwendbar; sie führt insbesondere nicht nur zum Ziele, wenn für die Werte der gesuchten Funktionen selbst auf der Randkurve lineare homogene oder inhomogene Relationen vorgeschrieben sind, sondern auch, wenn noch die Ableitungen erster oder höherer Ordnung der gesuchten Funktionen mit den Funktionswerten auf der Randkurve in linearer Weise verknüpft sind. Durch die Behandlung solcher Aufgaben wird, wie mir scheint, der Theorie der Funktionen einer komplexen Variable ein neues dankbares Kapitel hinzugefügt.”

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References:

[1] Die hierin benutzten Bezeichnungen sind die von Herrn Hilbert in seiner Abhandlung ?Grundzüge einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen?; Nachrichten d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, 1904, Heft 1.
[2] Math. Ann. Bd. 58, S. 45.
[3] Seminar, W. S. 1901-02.
[4] Math. Ann. Bd. 58, S. 449.
[5] A. a. O. Math. Ann. Bd. 58, S. 449.
[6] Siehe Fredholm ?Sur une classe d’équations fonctionelles?. Acta Mathematica Bd. 27 (1903); Hilbert, a. a. O. Math. Ann. Bd. 58, S. 449.
[7] Man vergleiche Math. Ann. Bd. 58, S. 454-456.
[8] Comptes Rendus, T. CXXVI, S. 723; Handbuch der Theorie der linearen differentialgleichungen II, 2, S. 382.
[9] Vorlesung über Potentialtheorie, W. S. 1901-02.
[10] Siehe Math. Ann. Bd. 58, S. 442 und 449.
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