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Zur Morhpologie der Polyeder. (German) JFM 23.0544.03

Leipzig. B. G. Teubner. IV+245 S. mit 2 Fig.-Taf. \(8^{\circ}\) (1891).
Ein Werk von grundlegender Bedeutung, das die Lehre von den Gestalten der Polyeder ein erhebliches Stück vorwärts bringt; reich an neuen Gedanken, die sowohl in der Stellung, wie in der Behandlung der Probleme zu Tage treten.
Gegenstand der Untersuchung sind die allgemeinen convexen Polyeder, d. h. diejenigen, bei denen in jeder Ecke drei Grenzflächen zusammenstossen. Stossen auch nur in einer Ecke mehr als drei Grenzflächen zusammen, so heisst das Polyeder singulär; die singulären Polyeder bleiben von der Betrachtung ausgeschlossen.
Der erste Teil der Schrift giebt die Definitionen und lehrt die Herstellung der Polyeder. Zwei \(n\)-flächige Polyeder heissen isomorph, wennn die Ebenen des einen durch \(\alpha_1, \alpha_2, \dots, \alpha_n\) und die Ebenen des anderen in irgend einer Reihenfolge so durch \(\beta_1, \beta_2, \dots, \beta_n\) bezeichnet werden können, dass jeder Ecke \((\alpha_i \alpha_k \alpha_l)\) eine Ecke \((\beta_i \beta_k \beta_l)\) entspricht; sie stimmen also in der Zahl der Ecken, in der Zahl und Lage der Kanten, sowie in der Zahl, der Art und der Reihenfolge der Flächen überein. Von diesen Polyedern wird bewiesen, dass sie durch stetige Deformation, unter Erhaltung ihres morphologischen Charakters, in einander übergeführt werden können; sie stellen daher nur eine Polyederart vor, und jede Polyederart ist durch eines ihrer Individuen charakterisirt.
Die erste Methode, alle convexen Polyeder aufzustellen, ist eine mechanische. Man kann ein ebenes \(n\)-Eck dadurch bilden, dass man von einem \((n-1)\)-Eck eine Ecke durch eine \(n^{\text{te}}\) Seite abschneidet. Das Analoge gilt für die Polyeder. Enthält nämlich das Polyeder unter seinen Grenzflächen \(x_3\) Dreiecke, \(x_4\) Vierecke, \(\dots, x_m\) \(m\)-Ecke, so kann man zeigen, dass \(x_3+x_4+x_5\) mindestens den Wert 4 besitzt; unter den Grenzflächen sind daher mindestens vier vorhanden, die weniger als sechs Seiten besitzen. Hieraus schliesst man, dass jedes \(n\)-Flach aus einem \((n-1)\)-Flach durch ebene Schnitte entsteht, die entweder eine Ecke, oder eine Kante, oder zwei sich in einer Ecke treffende Kanten abschneiden, und zwar ist die Schnittfigur resp. ein Dreieck, ein Viereck oder ein Fünfeck. Man kann daher jedes convexe Polyeder durch derartige Schnitte aus einem Tetraeder ableiten.
Diese Methode setzt voraus, dass man die \((n-1)\)-Flache kennt, wenn man die \(n\)-Flache herstellen will; es wird daher noch eine zweite generelle Methode entwickelt. Es giebt nämlich für jedes Polyeder ein System gestaltlich unabhängiger Grenzflächen, die das Polyeder unzweideutig bestimmen. Ein solches System heisst ein Stammsystem; es ist bestimmt, wenn man die Zahl, die Form und den Zusammenhang der bezüglichen Grenzflächen kennt, und zwar betrifft der Zusammenhang die Art, auf die die Ecken der Grenzflächen mit einander verbunden sind. Der Verfasser leitet die Kriterien dafür ab, wann ein Flächensystem ein Stammsystem ist, und zeigt, dass man durch eine endliche Zahl von Processen alle Flächencombinationen aufstellen kann, die das Stammsystem eines \(n\)-Flachs bilden können. Als Beispiel wird die Aufstellung aller Heptaeder durchgeführt.
Hieran schliesst sich eine Untersuchung, die lehrt, wie sich die Polyeder nach der Art des Flächenzusammenhangs unterscheiden. Nennt man zwei Flächen Scheitelflächen, wenn es Kanten giebt, die je eine Ecke der einen mit je einer Ecke der andern verbinden, und bestimmt zu irgend drei in einer Ecke zusammenstossende Flächen die Scheitelfächen, zu diesen wieder die Scheitelflächen, und so fort, so können drei Fälle eintreten. Entweder fallen alle drei Scheitelflächensysteme in ein einziges zusammen (z. B. Tetraeder), oder es coincidiren nur zwei Systeme (z. B. Pentaeder), oder es verlaufen alle drei Systeme getrennt (z. B. Würfel).
Der zweite Teil ist der gehaltvollste; er beschäftigt sich mit dem organischen Zusammenhang der verschiedenen Polyederformen und ihrer Einteilung in Familien, Stämme und Bereiche.
Zwischen den oben genannten Zahlen \(x_3,x_4,\dots\) besteht die leicht zu erweisende Hauptgleichung \[ (1)\quad 3x_3+2x_4+x_5-x_7-2x_8-3x_9-\cdots -(n-7)x_{n-1}=12; \] die linke Seite ist also für alle Polyeder eine numerische Invariante. Diese Gleichung lässt sich zerfällen in \[ (2)\quad \begin{cases} 3x_3+2x_4+x_5-12=m\quad \text{und} \\ x_7+2x_8+3x_9+\cdots =m,\end{cases} \] wo \(m\) notwendig eine positive ganze Zahl ist. In allen diesen Gleichungen tritt die Zahl \(x_6\), d. h. die Zahl der Grenzsechsecke des Polyeders nicht auf. Rechnet man nun alle Polyeder, die zu demselben Werte von \(m\) gehören, in einem Bereich, und teilt man die Polyeder eines Bereiches nach den Werten von \(x_3,x_4,x_5,\dots\) in Polyederstämme, so ergeben sich sofort folgende Fragen: 1) Gehört zu jeder ganzen positiven Zahl \(m\) ein Polyederbereich? 2) Definirt jedes ganzzahlige Lösungssystem \(x_3,x_4,x_5,\dots\) der obigen Hauptgleichung einen Polyederstamm? Und: 3) In welcher Abhängigkeit steht die Zahl \(x_6\) der Grenzsechsecke von den anderen Grenzflächen? Dies sind die drei Hauptprobleme, die in dem Buche ihre Erledigung finden.
Zunächst wird das dritte behandelt. Da die Zahl \(x_6\) auf die Zugehörigkeit eines Polyeders zu einem Polyederstamm ohne Einfluss ist, so liegt es nahe, zu vermuten, dass sich die Polyeder mit Sechsecken aus anderen Polyedern desselben Stammes durch Einfügung der bezüglichen Sechsecke geometrisch ableiten lassen. Dies wird folgendermassen untersucht. Ein aus Polyederkanten gebildetes Polygon, welches das Polyeder in zwei einfach berandete Flächenstücke zerteilt, soll ein einfaches oder einteiliges Kantenpolygon heissen. Von zwei isomorphen Kantenpolygonen lässt sich wieder zeigen, dass sie unter Erhaltung ihres morphologischen Charakters stetig in einander deformirt werden können, und daraus folgt nun, dass sich zwei einfach berandete polyedrische Flächen, deren Randpolygone isomorph sind, durch stetige Deformation und unter Wahrung ihrer Gestalt zu einem einzigen Polyeder vereinigen lassen. Hierauf beruht der wichtige Begriff der reduciblen und irreduciblen Polyeder. Ein Polyeder \(S\) heisst reducibel, wenn man aus ihm einen oder mehrere Flächengürtel oder Flächenstreifen so ausschalten kann, dass die restirenden Stücke \(S_1,S_2,S_3,\dots\) mittels stetiger Deformation wieder zu einem Polyeder \(S'\) vereinigt werden können. Bedingung hierfür ist natürlich, dass \(S_1,S_2,\dots\) paarweise isomorphe Randpolygone besitzen. Das Polyeder \(S\) wird das enthaltende, \(S'\) das enthaltene genannt. Polyeder, die derartige Ausschaltungen nicht zulassen, heissen irreducibel oder Stammpolyeder; solche sind z. B. das Tetraeder, das Pentaeder, das Hexaeder, überhaupt alle, deren Grenzflächen nur Dreiecke, Vierecke und Fünfecke sind. Der Verfasser zeigt andererseits, dass man auf jedem Polyeder Kantenpolygone angeben kann, längs deren sich Flächengürtel in unbegrenzter Zahl einschalten lassen. Jedes auf dem Polyeder verlaufende Netz von Kantenpolygonen, das hierzu geeignet ist, heisst ein Erweiterungsnetz. Ist \(y_h\) die Zahl der \(h\)-seitigen Grenzflächen des Einschaltungssystems, so besteht die Gleichung \[ 3y_3+2y_4+y_5-y_7-2y_8-\cdots =0. \] Das einfachste Lösungssystem dieser Gleichung wird durch \[ y_3=y_4=y_5=y_7=y_8=\cdots =0 \] gegeben; ihm entspricht ein Einschaltungssystem, das aus lauter Sechsecken besteht. Eine derartige Erweiterung des Polyeders wird eine Elementarerweiterung genannt, und das bezügliche Erweiterungsnetz ein Netz von Elementarpolygonen oder ein Elementarnetz. Die einfachste Elementarerweiterung eines Polyeders besteht in der Spaltung längs eines einzigen Polygons und in der Einschaltung eines aus einer einfachen Reihe von Sechsecken bestehenden Elementarstreifens. Polygone, die eine solche Erweiterung zulassen, werden Normalpolygone genannt. Von ihnen wird gezeigt, dass sie auf jedem Polyeder existiren; es gilt nämlich der Satz, dass es zu jeder Polyederkante ein linksseitiges und ein rechtsseitiges Normalpolygon giebt, längs dessen sich je ein Elementarstreifen in die Oberfläche des Polyeders einschalten lässt.
Durch das Vorstehende gewinnen die aus lauter Sechsecken bestehenden polyedrischen Flächen eine besondere Bedeutung. Der Verfasser nennt sie Hexagonoide und widmet ihnen eine eingehende Untersuchung. Ein auf einem Hexagonoid \(H\) verlaufendes Kantenpolygon hat höchstens fünf auf einander folgende Kanten, die in einer Ebene liegen. Zerschneidet man das Hexagonoid längs des Kantenpolygons \(P\) in zwei Teile \(A\) und \(B\), so ist das Kantenpolygon Randpolygon von \(A\) und \(B\). In erster Hinsicht möge die Zahl seiner \(h\)-kantigen ebenen Züge mit \(a_h\) bezeichnet werden, ebenso sei \(b_h\) die entsprechende Zahl, wenn wir \(P\) als Randpolygon von \(B\) betrachten. Alsdann soll der absolute Wert \(C\) der Differenz \(a_3+2a_4+3a_5-(b_3+2b_4+3b_5)\) die Charakteristik des Polygons heissen; sie dient dazu, geometrische Kriterien dafür zu schaffen, wann ein Kantenpolygon ein Elementarpolygon ist. Dies wird folgendermassen ausgeführt.
Denkt man sich in einem Kantenpolygon diejenigen Kanten, die einer Grenzfläche angehören, durch den complementären Kantenzug der nämlichen Grenzfläche ersetzt, so entsteht ein neues Kantenpolyhgon, das der Verfasser ein Nachbarpolygon des ersten nennt. Zwei Nachbarpolygone eines Hexagonoides haben die nämliche Charakteristik, die Charakteristik hat daher auch für die beiden Randpolygone eines Hexagonoides denselben Wert. Dies giebt Anlass, diejenigen Hexagonoide \(H_c\) zu studiren, deren eines Randpolygon ein ebenes \(c\)-kantiges Polygon ist. Die auf ihm verlaufenden Kantenpolygone haben die Charakteristik \(c\) oder 6, je nachem sie mit der Grundfläche einen Gürtel beranden oder nicht; für \(c=6\) existirt unter ihnen mindestens eins, das einem beliebig gegebenen Polygon der Charakteristik 6 isomorph ist; allerdings muss es überdies “irreducibel” sein. Ist nämlich im besonderen \(c=6c'\), so kann von zwei auf dem Hexagonoid \(H_c\) verlaufenden Kantenpolygonen der Charakteristik \(6c'\) keines einen Kantenzug enthalten, der dem gesamten anderen Kantenpolygon isomorph ist. Ein Kantenpolygon dieser Art, von dem also nicht bereits ein Teil isomorph auf ein geschlossenes Kantenpolygon eines Hexagonoides mit ebener Grundfläche von der gleichen Charakteristik \(c=6c'\) abgebildet werden kann, wird irreducibel genannt.
Die einfachsten Hexagonoide sind diejenigen, deren Charakteristik Null ist, die sich also z. B. durch beiderseitige Elementarerweiterung eines Polygons von der Charaktersitik Null ergeben. Sie werden als Elementarhexagonoide \(H_c\) bezeichnet. Jedes irreducible Kantenpolygon der Charakteristik \(6c'\) ist mindestens einem Polygon eines Hexagonoides \(H_{6c'}\) isomorph; im besonderen sind die Elementarpolygone stets den Polygonen eines gewissen Elementarhexagonoides isomorph. Es folgt daraus, dass jedes Elementarpolygon die Charakteristik Null hat. Umgekehrt ist auch jedes irreducible Kantenpolygon, das die Charakteristik Null hat, ein Elementarpolygon. Im Anschluss an diese Sätze kann die Aufgabe, die Elementarpolygone eines Polyeders zu bestimmen, erledigt werden. Auf jedem convexen Polyeder giebt es midestens ein derartiges Polygon; für das Tetraeder, Hexaeder und Pentagondodekaeder werden sie vollständig bestimmt.
Für die Beziehung der enthaltenden und enthaltenen Polyeder zu einander erübrigt noch die Frage, welches die Elementarerweiterungen sind, die längs eines Elementarpolygons oder eines Elementarnetzes in ein Polyeder eingeschaltet werden können. Man hat wieder reducible und irreducible Erweiterungen zu unterscheiden, und zwar sind diejenigen reducibel, aus denen sich, ebenso wie bei den polyedern, elementare Flächengürtel oder Flächenstreifen ausschalten lassen. Nur die irreduciblen bedürfen der Untersuchung. Es zeigt sich, dass zu jedem Elementarpolygon oder Elementarnetz eines Polyeders nur eine endliche Zahl von irreduciblen Einschaltungsflächen existirt; sie lassen sich durch eine endliche Zahl von Processen bestimmen. Zwei Arten der Elementarerweiterung sind besonders einfach; sie sind für alle Polyeder zulässig. Bei der einen werden alle Ecken, bei der andren alle Kanten abgeschnitten, und die Polyeder so deformirt, bis die neuen Grenzflächen, d. h. die Dreiseite resp. Vierseite, in Sechsecke übergehen. Dem ersten Process entspricht eine irreducible, dem zweiten eine reducible Einschaltungsfläche.
Der Schluss des Buches beschäftigt sich mit den Polyederstämmen und Polyederbereichen. Zu jeder Zahl \(m\) der obigen Gleichung (2) gehört ein Polyederbereich. Es handelt sich im wesentlichen darum, die Existenz des Bereiches \(B_0\) für \(m=0\) zu zeigen; die Existenz der Polyederbereiche \(B_m\) folgt daraus, dass man aus einem irreduciblen Polyeder des Bereiches \(B_0\) durch geeignete Umformungsprocesse irreducible Polyeder jedes Bereiches \(B_m\) ableiten kann. Ferner definirt jedes ganzzahlige Lösungssystem der Gleichung (1) wirklich einen und nur einen Polyederstamm. Die Zahl der Stämme des Bereiches \(B_m\) ist daher gleich dem Producte der ganzzahligen positiven Lösungen der beiden Gleichungen (2); sie können bekanntlich durch ein einfaches Recursionsverfahren gefunden werden. Zu jedem Polyederstamm gehören im allgemeinen verschiedene irreducible Polyeder ; es wird gelehrt, wie man sie aus der gegebenen Zahl der Grenzflächen, zu denen noch beliebig viele Sechsecke kommen können, zu construiren hat. Uebersteigt die Zahl dieser Sechsecke eine gewisse Grenze, so wird das Polyeder reducibel; die Zahl der irreduciblen Polyeder eines Stammes ist daher endlich. Rechnet man noch alle Polyeder, die aus einem Stammpolyeder durch Elementarerweiterungen entstehen, in eine Polyederfamilie und beachtet, das bei Elementarerweiterungen Bereich und Stamm unverändert bleiben, so resultirt schliesslich folgende Einteilung aller Polyeder: Zu jedem \(m\) gehört ein Bereich, in ihm giebt es eine endliche Zahl von Stämmen, in jedem Stamm eine endliche Zahl von Familien und in jeder Familie eine unendliche Zahl von allomorphen Individuen.
Einige der vorstehenden Resultate werden auch auf singuläre Polyeder ausgedehnt.

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