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Opera quae exstant omnia. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Samuel Horsley, London 1779–1785 in fünf Bänden. Bände 1 und 4. (German) Zbl 0129.25102

Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog). xx, 592 S.; 609 S. (1964).
Die Flut der photomechanischen Nachdrucke wissenschaftlicher Werke, die – wenn nicht alle Zeichen trügen – noch weiter ansteigen wird, umfaßt zwei Hauptgruppen. Da sind erstens jene Bücher und Zeitschriften, die vor allem die auch heute noch zum unentbehrlichen Handwerkszeug des Fachwissenschaftlers gehörenden Forschungsergebnisse früherer Generationen enthalten. Da sind zweitens all die Originalarbeiten großer (wie minder bedeutender) Männer, von dem Schreiber Aḥmôse im alten Ägypten bis zu Zermelo in unserem Jahrhundert, die einerseits Studienobjekt historischer Forschung sind, andererseits aber hoffen können, auch bei einem breiteren Publikum Interesse zu finden. Hier aber begegnet uns die ganze Problematik der Nachdrucke. Denn in vielen Fällen errtsprechen die bisherigen Ausgaben klassischer Schriften keineswegs den Anforderungen, die unsere wissenschaftlich ausgerichtete Zeit mit Recht an solche Editionen stellt: Sie sollen, wenn sie schon nicht über die Entwicklungsgeschichte der Werke im einzelnen Auskunft geben und durch Fußnoten oder andere Zusätze dem heutigen Leser den Zugang in die ihm oft nicht mehr vertraute Gedankenwelt vergangener Jahrhunderte erleichtern können, zumindest den unverfälschten Text des Originals so wiedergeben, wie ihn der Autor seinerzeit verfaßt hat. Der Kenner weiß, welche Schwierigkeiten sich oft hinter dieser so einleuchtenden Forderung verbergen.
Newtons „Opera“ bieten ein gutes Beispiel dafür. Sie wurden mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod von Bischof Horsley in 5 Bänden (1779–1785) herausgegeben. [Bereits 1744 hatte G. de Castillon die dreibändigen „Opuscula“ (Lausanne-Genf) ediert – nur der 1. Band davon enthält rein mathematische Schriften.] Seitdem ist keine umfassende Werkausgabe Newtons mehr veranstaltet worden. Horsley vereinigte ebenfalls im 1. Band die mathematischen Abhandlungen. An den Anfang stellte er die ,Arithmetica universalis’, die auf die Lucasianischen Vorlesungen über Algebra und analytische Geometrie der Jahre 1673/83 zurückgeht und zuerst 1707 erschienen war. Dann folgt als kurzes Stück der Abschnitt I des 1. Buches der „Principia“, worin der Grenzübergang vom Differenzen- zum Differentialquotienten erörtert wird. Es schließt sich die 30 Seiten umfassende Schrift ,De analysi’ an, worauf mathematische Auszüge aus Newtons Briefen folgen. über den ,Tractatus de quadratura curvarum’ wird unten mehr gesagt, ebenso über die dann folgende Schrift von 1671, der W. Jones und mit ihm Horsley den Titel gab ,Artis analyticae specimina vel geometria analytica’ – bekannter ist sie unter der Bezeichnung ,Methodus fluxionum et serierum infinitarum’. Den Abschluß des 1. Bandes bilden die kurze ,Methodus differentialis’ und die ,Enumeratio linearum tertii ordinis’, wozu noch zwei Anhänge aus der Feder des Herausgebers treten.
Bd. 4 enthält an größeren Schriften die ,Optik’ (1670/73) in englischer Sprache nach der Ausgabe von 1717 (zuerst 1704 erschienen) und die berühmte Sammlung ,Commercium epistolicum’ (lateinisch, London \(^1\)1712/13, \(^2\)1722, mit neuem Vorwort 1725), aus der Einzelheiten bereits in den kurzen Briefauszügen in Bd. 1 vorweggenommen sind. Dazu treten verschiedene Briefe Newtons (in Englisch): über ,Subjects in natural philosophy’, über die Ursache der Gravitation, und die bekannten vier Briefe an Bentley. Einige kleinere Stücke vervollständigen diesen Band.
Die Problematik des unveränderten Nachdruckens wird in aller Schärfe deutlich, wenn man die Frage nach der Entwicklungsgeschichte der Newtonschen Gedanken stellt: Horsleys Ausgabe gibt darauf keinerlei Antwort. Greifen wir als Beispiel nur die wesentlichen Schriften zur Infinitesimalrechnung, die der 1. Band enthält, heraus. Newtons Arbeiten dazu setzten 1664/65 ein, führten zu einer ersten ordnenden Zusammenstellung im Mai 1666, aus der im Oktober 1666 die Darstellung hervorging, die zum erstenmal (von einigen Auszügen abgesehen) unter dem Titel ,To resolve problems by motion’ im Jahre 1962 ( !) veröffentlicht wurde in [A. R. Hall und Marie Boas Hall, Unpublished scientific papers of Isaac Newton (Cambridge 1962), pp. 15–64; 2nd ed. (1978; Zbl 0385.01016)]. 1669 entstand die oben (und oft) ,De analysi’ genannte Schrift, deren ausführlicher Titel ,De analysi per aequationes numero terminorum infinitas’ den Inhalt grob kennzeichnet: sie bringt die Reihenlehre unter Verwendung des Fluxionsbegriffs. Zuerst 1711 von W. Jones herausgegeben und im ,Commercium Epistolicum’ als Zeuge im Prioritätsstreit mit Leibniz mitabgedruckt, enthält sie wesentliche Abschreibefehler und Auslassungen gegenüber dem Manuskript, die bis heute im Druck nicht korrigiert sind.
Für die ,Quadratura curvarum’, deren Anfänge bis etwa 1670 zurückreichen, entstanden 1691 einige Entwürfe. Die ersten elf Propositionen wurden, nachdem sich andere Publikationspläne zerschlagen hatten, als 2. Anhang der ,Optik’ von 1704 beigegeben, waren auch in der genannten Ausgabe der ,De analysi’ von 1711 enthalten, doch sind weitere fünf Propositionen bis heute ungedruckt. Ebenso ist eine erneute Bearbeitung der ganzen Abhandlung durch Newton (Ende 1713) mit dem Titel ,Analysis per quantitates et earum moment’ noch nicht veröffentlicht. Darin geht Newton auf die Kritik, die die Ausgabe von 1711 sowie die 2. Auflage der ,Principia’ (ed. R. Cotes, 1713) auf dem Kontinent (bei Leibniz und Johann Bernoulli) hervorgerufen hatte, ein.
Die Abhandlung ,Methodus fluxionum’ schließlich entstand 1671, wobei der erste allgemeine Abschnitt aus der ,Analysis per aequationes’ hervorging. Gedruckt wurde sie zum erstenmal neun Jahre nach Newtons Tod in der englischen Übersetzung von J. Colson (1736). Vorausgegangen waren in den Jahren 1671–1676 verschiedene vergebliche Versuche Newtons, sie herauszugeben – Auszüge enthielten die beiden großen Briefe für Leibniz vom Sommer und Herbst 1676. Auch die ,Methodus fluxionum’ ist bis heute ein Torso geblieben, denn das Kapitel über synthetische Fluxionsmethoden wurde von allen Herausgebern weggelassen. Horsley hat außerdem die Schreibweise der Handschrift nicht unverändert übernommen, sondern an Stelle der Newtonschen Buchstaben \(p, q, r\) für die Ableitungen von \(x, y, z\) nach \(t\) die Bezeichnungen \(\dot x, \dot y, \dot z\) eingesetzt, zu denen Newton erst 1691 überging.
Diese Hinweise deuten an, wie notwendig die Beigabe eines neuen Vorworts gerade in diesem Fall gewesen wäre. Die Newton-Forschung hat in jüngster Zeit eine Neubelebung erfahren, die das überkommene Newton-Bild stark ergänzt und gewandelt hat. [Vgl. D. T. Whiteside, Hist. Sci. 1, 16–29 (1962; Zbl 0201.31602)] Newtons ,Correspondence’, Bd. 1–3 herausgegeben von H. W. Turnbull [Vol. I: 1661–1675. Vol II: 1676–1687 (1959/1960; Zbl 0093.00403); Vol. III: 1688–1694. Cambridge: At the University Press (1961; Zbl 0102.00202), ab Bd. 4 von J. F. Scott [Vol. IV: 1694–1709 (1967; Zbl 0154.24802)], erscheint seit 1959, der erste Band der von D. T. Whiteside edierten Ausgabe aller mathematischen Manuskripte ist bei der Cambridge University Press im Druck [Vols. I–VI, Zbl 0143.24205; Zbl 0157.00701; Zbl 0172.28301; Zbl 0215.04201; Zbl 0237.01010; Zbl 0296.01007], eine Variorum-Edition der ,Principia’ wurde von A. Koyré \((\dagger)\) und I. B. Cohen vorbereitet [London: Cambridge University Press (1972; Zbl 0239.01009)]. Bereits 1943 erschienen in den [Abh. Preuß. Akad. Wiss., Math.-Naturw. Kl. 1943, No. 2, 130 S. (1943; Zbl 0061.00502)] J. E. Hofmanns, Studien zur Vorgeschichte des Prioritätsstreites …’, die auf S. 9–17 den Inhalt der Schrift ,De analysi’, auf S. 49–70 denjenigen der ,Methodus fluxionum’ analysieren. Außerdem gab D. T. Whiteside 1964 den ersten von zwei geplanten Bänden ,The mathematical works of Isaac Newton’ [New York etc.: Johnson Reprint Corporation (1964; Zbl 0139.00302)] heraus, die ältere englische Übersetzungen der seit dem 18. Jh. bekannten mathematischen Schriften wieder zugänglich machen.
Bd. 1 bringt ,De analysi’, ,Quadr. curv.’ und ,Meth. flux.’, Bd. 2 wird die ,Arith. univ.’. ,Math. diff.’ und ,Enum. lin. 3 ord.’ enthalten. In der ausgezeichneten Einleitung des Herausgebers wird die Entwicklungs- und Druckgeschichte der Schriften Newtons dargelegt, die ich hier nur auszugsweise wiedergeben konnte.
So macht der zwar etwas verkleinerte, aber sorgfältig ausgeführte und ansprechend in Leinen gebundene Nachdruck der ,Opera omnia’ den bisher schon bekannten Newton erneut zugänglich; nach Ergänzung durch die genannten Editionen noch unbekannter Quellen wird dann endlich ein wesentlicher Teil des Materials bereitstehen, das die Newton-Forschung so dringend zur sinnvollen Weiterarbeit benötigt.

MSC:

01A75 Collected or selected works; reprintings or translations of classics
01A45 History of mathematics in the 17th century
01A50 History of mathematics in the 18th century

Keywords:

collected works