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Die Theorie der Physik bei den modernen Physikern. Deutsch von Rudolf Eisler. (German) JFM 39.0090.04

Leipzig: Dr. Werner Klinkhardt. X u. 371 S. \(8^\circ\). (Philosophisch-soziologische Bücherei. Bd. XII) (1908).
“La théorie de la physique chez les physiciens contemporains” (Paris: Félix Alcan. VI u. 412 S. 1907) ist ein Buch von solcher Bedeutung, daß sich seine Übersetzung ins Deutsche von selbst aufdrängte. Der Verf. verfügt über einen bewundernswerten Reichtum des Wissens und der Gestaltungskraft; in seinem Werke vermißt man kaum einen Namen von Bedeutung für die behandelten Fragen; er weißmit großem Geschick die bedeutenden Gesichtspunkte hervorzuheben, jedem Forscher gerecht zu werden. Auch wenn der Leser den Ausführungen nicht immer zustimmt, wird er stets gefesselt und auf angenehme Weise belehrt.
Nach einer Einleitung über die Abgrenzung des Problems und seine mannigfachen Bedeutungen wird im ersten Teile eine Analyse der Theorien gegeben; im zweiten Teile werden dann die philosophischen Konsequenzen erörtert.
Von den vier “Büchern” des ersten Teils stellt das erste Buch den traditionellen Mechanismus (Lagrange , Laplace etc.) und die Anlässe zu seiner Kritik und Reform dar. Die Kritik des Mechanismus in den begrifflichen Theorien ist der Gegenstand des zweiten Buches. In drei Kapiteln werden die Hauptrichtungen vorgeführt: die Energetik Rankines, die Anschauungen Machs und die Energetik Ostwalds nebst den Erfahrungsgrundlagen der neuen Physik, die Struktur der physikalischen Theorie in der begrifflichen Physik unter besonderer Hervorhebung der Anschauungen Duhems. Im dritten Buche wird die Kritik des Mechanismus vorzugsweise nach der kritischen Stellungnahme von Poincaré fortgesetzt. “Diese Kritik hält in ihren Folgerungen die Objektivität der Physik innerhalb der Grenzen der Erfahrung sowie die Stetigkeit der wissenschaftlichen Entwicklung aufrecht. Sie ergibt einen empirischen Positivismus, zugleich auch die Berechtigung der mathematischen Physik, die Möglichkeit einer rationellen Organisation der empirischen Resultate . . . . Trotz alledem ist der Historiker genötigt, festzustellen, daß die große Mehrzahl der Physiker und fast alle Laboratoriumsforscher dem Mechanismus treu geblieben sind.” Die Geschichte der unter dem Einfiusse des Mechanismus gemachten Entdeckungen und seiner fortschreitenden Entwicklung und Weiterbildung wird im vierten Buche dargestellt.
Der erste Teil reicht von S. 45 bis 283, umfaßt also reichlich zwei Drittel des Werks und enthält die lehrreichen Darstellungen der von den verschiedenen Forschern gegebenen Theorien. Der zweite, kürzere Teil (S. 284 bis 369) zieht aus dem vorangehenden die philosophischen Konsequenzen.
Als Ergebnis dieses Beitrags zur Geschichte und Logik der Wissenschaften glaubt der Verf. folgendes behaupten zu können: 1. Alle Physiker erkennen einen beständig anwachsenden Grundstock notwendiger und allgemeiner Wahrheiten an. 2. Dieser Grundstock von Wahrheiten besteht in dem Inbegriffe rein experimenteller Resultate. 3. Das Willkürliche – und zwar von diesem stabilen, definitiven Grundstock scharf geschieden – besteht nur in den theoretischen Konstruktionen, welche alle diesen Grundstock intakt lassen und ihn intakt finden lassen, weil sie nur Arbeits- und Systemmittel waren. Dadurch wird ihre Bedeutung nicht geschmälert; denn so sind sie die Quelle aller Entdeckungen und alles Fortschrittes auf physikalischem Gebiete. Sie konstituieren das Reich der Hypothese, d. h. der sukzessiven Annäherungen an die Wahrheit. Dies setzt eine Wahrheit voraus, der sie sich immer mehr nähern. Ihre Divergenz rührt also nur von ihrer besonderen wissenschaftlichen Bestimmung und von der individuellen Geistesrichtung der Forscher her. 4. Man ist berechtigt, von einem allgemeinen, homogenen Geist der physikalischen Disziplinen zu sprechen; er bildet zugleich eine künftige positive Logik der Naturwissenschaften und eine menschliche Philosophie der Materie und ihrer Erkenntnis.
Die Übersetzung ist nicht immer fließend; der Text zuweilen durch Druckfehler entstellt. Auffällig ist es, daß in der Wiedergabe von Stellen aus der berühmten Lübecker Rede Ostwalds “Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus” (die übrigens erst 1895 gehalten ist, nicht schon 1893) manche offenbar nach dem Original abgedruckt sind, eine größere Stelle aber (S. 114) aus dem Französischen zurückübersetzt und daher mit manchen Ungenauigkeiten und Fehlern behaftet ist. Die hier gemachten Verweisungen, welche die Seitenzahlen der französischen Übersetzung dieser Rede in der Revue générale des sciences von 1905 anführen, sind in einer deutschen Schrift recht wenig am Platze, ebensowenig der Verweis auf die französische Übersetzung von Ostwalds Grundrißder allgemeinen Chemie. Bei den Zitaten zu Poincaré hätte zur Bequemlichkeit deutscher Leser auch lieber auf die deutschen Übersetzungen “Wissenschaft und Hypothese” und “Wert der Wissenschaft” verwiesen werden können.